Deutschland, Nordschleswig und Dänemark.

 Von

einem Dänen.

Alle kennen die Erzählung Bismarcks von seinem Zusammenstoß mit dem alten Wrangel. Bereits im dänisch-deutschen Kriege 1864 wollten die militärischen Leiter nicht verstehen, daß der Kriegsapparat zum politischen Gebrauch bestimmt ist und sich daher der politischen Leitung des Staates unterordnen muß, und als der Feldmarschall Wrangel vom Ueberschreiten der Königsau vorläufig zurückgehalten wurde, sandte er dem König unchiffrierte Drahtdepeschen, daß Diplomaten wie Bismarck den Galgen verdienten. Erst viel später wurde die Verstimmung zwischen den beiden bei einem Essen beseitigt, wo Wrangel zu Bismarck sagte : "Mein Sohn, kannst Du gar nicht vergessen?" Bismarck : "Wie sollte ich es anfangen, zu vergessen, was ich erlebt habe ?" W.: "Kannst Du auch nicht vergeben ?" B.: "Von ganzem Herzen.“ Und nun versöhnten sie sich.

Bismarcks Antwort war sein, aber in Wirklichkeit traf doch Wrangel das rechte. Was die Zeit in die Ferne bringt, wird bleich und verliert seine Umrisse; man versöhnt sich mit ihm, wenn es den Stachel verloren hat. Die Präskriptionsgesehe der Kulturstaaten sind aus praktischen Rücksichten erschaffen; hinter ihnen liegt aber die alles glättende Zeit. Jedesmal aber, wenn eine Präskriptionszeit durchbrochen wird, fängt sie von neuem an, und um zu vergessen, darf man nicht stets an das erinnert werden, was man verloren hat.

Tut nun Deutschland, was es Dänemark gegenüber tun müßte, um es vergessen zu machen ?

Es gibt Dänen, welche hier sofort antworten werden, wir vergessen nicht, Ihr mögt streicheln oder schlagen; denn wir wollen nicht vergessen. Alle aber, welche einsehen, daß ein gutes Nachbar verhältnis zu Deutschland für Dänemark eine Lebensbedingung ist - und kein Däne mit Verſtand kann das Gegenteil meinen — fühlen schmerzlich, daß nach Verlauf von bald einem halben Jahrhundert die Wunden noch nicht „ vernarbt“ sind. Selbstverſtändlich hat die Zeit Balsam gebracht, aber nicht in dem Umfange, den man hätte erwarten können. Es rührt davon her, daß "die Präskriptionszeit“ fortwährend durchbrochen wird.

Und dennoch wünschen ja auch die Deutschen ein gutes Verhältnis zu Dänemark. Sie bereisen unser Land zu Tausenden und Zehntausenden sowohl zu Vergnügungs- als zu Geschäftszwecken, sie lesen unsere Literatur, sie schäßen unseren landwirtschaftlichen Betrieb und ahmen ihn nach, sie bewundern unsere Kunstindustrie, sie sind liebenswürdige Wirte, wenn man sie besucht, ihre Fürstenhäuser verschwägern sich andauernd mit dem unsrigen, aber sie halten dennoch stets die Wunde offen. Indessen hat alles in der Welt ja seinen Grund, und wir müssen somit den Grund dieser sonderbaren Erscheinung zu finden suchen.

Im Jahre 1864 eroberte Preußen, mit Oesterreich im Schlepptau, Schleswig, Holstein und Lauenburg von Dänemark. Die ursprünglichen Ursachen des Krieges waren bekanntlich eine Mischung von nationalen und Erbfragen, an deren Lösung durch eine Annexion der Herzogtümer von seiten Preußens niemand von den zunächst beteiligten dachte. Aber Bismarck verfolgte weder nationale noch augustenburgische Interessen in diesem Krieg, der von ihm unternommen wurde, um Preußens Macht zu stärken, und, wenn möglich, sein Territorium zu erweitern. Der Krieg war in seinen Augen für Preußen ein vorzüglicher Anlaß, seine neue militärische Kraft zu erproben, sich unabhängig von der ganzen Schar von deutschen Mittel und Kleinstaaten zu erweisen, die ihm stets Hindernisse in den Weg legten und sein Prestige in und insbesondere außerhalb Deutschlands wieder zu errichten. Mit Oesterreich als Bundesgenossen ("pour le roi de Prusse", wie Bismarck sagte), mit Rußland als Freund und mit Napoleon III. und England als mehr oder weniger wohlwollende Zuschauer beide jedenfalls unter sich eifersüchtig, ohne Lust zum Eingreifen erlangte er die Losreißung der Herzogtümer von Dänemark, und als dieses geschehen war, verhinderte er die Errichtung eines selbständigen deutschen Staates und erwirkte die zuerst teilweise, nach 1866 gänzliche Einverleibung der Herzogtümer in Preußen. Das Jahr 1864 war selbstverständlich ohne die bekannten Ereignisse der voraufgegangenen Zeit in den Herzogtümern undenkbar, aber es führte einen Bruch mit der Vorzeit herbei, "Schleswig-Holstein, meerumschlungen" begann der Sagenwelt anzugehören, der Aufruhr, die Augustenburger usw. wurden ein fernes Vorspiel, 1864 leitete einen neuen Abschnitt in der Geschichte Deutschlands ein. Was in den sieben Jahren vom Januar 1864 bis zum Januar 1871 erreicht wurde, war die Errichtung des deutschen Reiches, mit Preußen als Kern; 1864 ist das erste, gewissermaßen bestimmende Glied dieser mächtigen Ereignisreihe, und hierin liegt seine Bedeutung für Deutschland, nicht aber in der Ausdehnung der deutschen Nationalität über die Elbe nordwärts. Wäre dieses die Bedeutung gewesen, würde Deutschland 1864-66 ein schlechtes Geschäft gemacht haben; denn Holstein und Lauenburg waren im Bunde, nur Schleswig wurde gewonnen, aber selbst wenn man die jetzige Bevölkerung des ganzen Schleswig-Holsteins mitrechnen will, ist "Deutschland" zwar um anderthalb Millionen Deutsche in der "Nordmark" vermehrt worden, aber 10 Millionen österreichische Deutsche sind von Deutschland ausgeschlossen worden und sind jezt nur eine Minoritätsbevölkerung in einem im übrigen slavischen Staat. Das letztere war ein Opfer, und das Erreichte ist das Opfer reichlich wert gewesen, aber, wie gesagt, selbstverständlich nur, wenn die Sache mit dem einigen und daher großen und starken Deutschland vor Augen gesehen wird, nicht unter dem Gesichtspunkt: der Sammlung "aller" deutschen Nationalitäten unter einer Leitung; in dieser Beziehung verlor man wesentlich mehr als man gewann.

Die Auffassung, daß die Eroberung der Herzogtümer, was auch immer vorangegangen war, sich zu einem rein politischen Schritt gestaltete und rein politische Folgen erhielt - während die nationale Frage in den Hintergrund trat ist nicht die allgemeine dänische, wo die Wünsche, die sich in bezug auf Nordschleswig geltend gemacht haben oder geltend machen, der Meinung sind, daß Deutschland jedenfalls nicht mehr hätte haben sollen, als was ihm in nationaler Beziehung gebührte, und sie ist auch nicht die allgemeine deutsche, wo man daran festhält, daß "Schleswig-Holstein ungedeel" die alte deutsche Forderung war, von der man noch heutigen Tages nichts ablassen darf, und daß es eine deutsche Aufgabe ist, zu nationalisieren, was noch dänisch ist, damit das Ideal der Vergangenheit zur vollen Wirklichkeit werden könne. Unsere Auffassung dürfte aber doch die realitet richtige sein, und der beste Beweis dafür ist, daß Oesterreich 1864 mit dabei war — etwa um den Systemwechsel der Länder nach der Nationalität zu unterstüßen? Nein, die Politik Oesterreichs war eine Fehlrechnung, aber auf einer Verrücktheit beruhte sie nicht.

Preußen besitz somit die Elbherzogtümer "mit dem Recht des Krieges" - als wie heilig oder nicht heilig man dieses Recht annehmen will, hängt von den Gesichtspunkten ab —, Preußen hat es für klug gehalten, sie zu annektieren, und es hat Einsicht, Macht und Glück gehabt, um es tun zu können, während aus entsprechenden Ursachen in entgegengeschter Richtung die Deutschen Oesterreichs und Rußlands unter den Zeptern des österreichischen und des russischen Kaisers sind und bleiben. Aber so angesehen, hat Deutschland auch seine "Mission" in Nordschleswig. Die Frage ist nur, ob es mit dem Willen zur Denationalisierung Nordschleswigs irgend einen politischen Zweck verbindet, ob ihm Nußen oder, wenn nicht, ob ihm Schaden daraus erwächst.

Die kirchliche Mission erklärt als ihren Zweck, daß sie nicht nur das Reich Gottes ausbreiten, sondern auch, daß sie die betreffenden dadurch glücklicher und besser machen will. Wir wollen es dahin gestellt sein lassen, was unter der Devise "in majorem dei gloriam“ an Glück und Unglück, an Gutem und Bösem in der Welt angerichtet worden ist, in bezug auf die irdischen Zwecke aber ist es sicher am richtigsten, auf der Erde zu bleiben. Es gab eine Zeit, wo man wirklich von deutscher Seite von den Leuten, welche "germanisiert" wurden, Dankbarkeit verlangte; heutigen Tages hat man eingesehen, daß "beneficia non obtruduntur", und daß die Nationalitäten, troß allem, am liebsten ihre nationale Kultur behalten. Vor allem dürfte man jezt darüber im Reinen sein, daß die in Nordschleswig ansässige Bevölkerung, gelinde gesagt, nicht schlechter ist als die in Südschleswig, und daß kein Grund vorhanden ist, sie mit einer Kultur zu "beglücken", die anzunehmen sie sich weigert. Ueberhaupt dürfte die gesamte Kultivierungsanschauung jezt veraltet und hinfällig sein.

Ist aber irgend ein politischer Grund zur Denationalisierung der Bevölkerung Nordschleswigs vorhanden? Hier mischen sich alte und neue Gesichtspunkte miteinander. Wenn der politische Staat und nationale Staat sich notwendigerweise decken sollten, müßten Oesterreich, die Türkei, die Schweiz, übrigens auch Rußland, aufhören, Staaten zu sein, und umgekehrt müßte man dann panslavistische, pangermanische Reiche usw. bilden - alles Phantastereien. Damit ist nicht ausgeschlossen, daß es für einen Staat nicht von Vorteil ist, eine gewisse Einheitlichkeit zu haben, und daß sein Bestreben nicht natürlich wäre, die Sprache, Kultur usw. der Hauptbevölkerung jedenfalls insoweit zum allgemeinen Besigtum werden zu lassen, daß die Bevölkerung in ihrer Gesamtheit weiß, was den betreffenden Staat in bezug auf Sprache und Kultur charakterisiert. Auf religiösem Gebiete hat man alles derartige aufgeben müſſen ("cujus regio, ejus religio"), in Preußen vor allem, und in derselben Weise gibt es Staaten, wo sprachliche Parität notwendig ist, weil, praktisch gesprochen, eine einzige Staatssprache nicht vorhanden ist; gibt es aber eine solche, kann hier der Staat nur verlangen, daß man seine Sprache kennt und zu gebrauchen versteht. Darüber hinaus darf man nicht gehen. Jemandem Kultur aufzwingen zu wollen ist in unserer Zeit Unkultur. Mit Gewalt Kultur verdrängen zu wollen, entspricht der Handlungsweise uralter Zeiten, die die Einwohner hinwegführte, und mit den eigenen Leuten kolonisierte, und wenn eine solche Barbarei auch seitens der antiken "Kulturvölker" ausgeführt wurde, geschah es u. a., weil man sie im Vergleich mit der Vertilgung der Ueberwundenen als einen Fortschritt ansah.

Läßt sich dergleichen aber nicht auch in unserer Zeit aus politischen Gründen verteidigen, ist das nicht ebenfalls das Recht des Krieges? Möglich. Was aus dem Recht des Krieges, d. h . aus der Macht, abgeleitet werden kann, darüber wird niemals zwischen dem stärkeren und dem schwächeren eine Einigkeit erzielt werden, und die jenigen, die zu dem Glauben Grund haben, daß sie in absehbarer Zeit die schwächeren bleiben werden, gewinnen nichts, wenn sie sich auf eine diesbezügliche Diskussion mit denen einlassen, die für sich gerade das Entgegengesette hoffen. Wir wollen darum gleich die abstrakte Behandlung fallen lassen und lieber konkret fragen, ob Grund vorhanden ist, dieses Recht des Krieges in Nordschleswig anzuwenden.

Man kann nicht verlangen, daß wir Dänen mit dem sympathisieren sollen, was in der "Ostmark" geschieht. Im Gegenteil es wird aber doch mit Gründen belegt . Es wird gesagt, daß, wenn das Germanentum hier nicht gegen das Polentum in den Kampf zieht, wird lezteres das erstere verdrängen, sprachlich, kulturell, sozial, es wird gesagt, daß es sich auf eine fruchtbarere Bevölkerung als die deutsche stüße, daß es in den österreichischen und russischen Polen eine mächtige Reserve habe, daß es Religion, Sprache und Nationalität zu einer gegen Preußens Brust gerichteten Schlinge verflochten habe, und daß es, wenn der Staat sich nicht wehrt, versuchen werde, ihn zu vernichten durch die Bildung eines Staates im Staate oder vielleicht auch eines neuen Staates, eines feindlichen und für Preußen lebensgefährlichen. Gleichgültig nun, ob dies alles richtig oder verkehrt ist, gleichgültig, ob es zu dem berechtigt, was man tut, oder nicht, paßt auch nur ein einziges dieser Argumente auf Nordschleswig?

Hier lebt eine Bevölkerung von etwa 2 pro mille des deutschen Volkes, in einer Ecke des Reiches, von derselben Art, Beschäftigung, Religion, Denk- und Lebensweise wie die deutsche, die nur dafür sämpft, ihre Sprache und die nationalen Verbindungen, die sie seit uralter Zeit gehabt hat, zu behalten. Hinter ihr steht ein Land, dem sie bis vor 40 bis 50 Jahren angehört, dessen Kultur alt und gut ist, auf vielen Gebieten in germanischer Kultur wurzelnd, das aber wahrlich nicht stark genug ist, dem mächtigen Reiche, welches mehr Soldaten hat als Dänemark Einwohner, gefährlich zu werden. Kann die Handvoll Schleswiger, die sich in der Nordmark befindet, ja kann das ganze dänische Volk in irgendwelcher Beziehung für deutsche Sprache, Kultur, Volksleben, Staat, hemmend wirken? Unmöglich! Weshalb dann die Waffen gegen sie wenden ? Es ist doch nicht denkbar, daß man in einem modernen Staat so wenig beweglich ist, daß man dasjenige, was im Osten und Süden für richtig gehalten wird, schablonenmäßig nun auch im Westen und Norden für richtig hält, daß man vergißt, daß "eines schickt sich nicht für alle“. Der Grund, der übrig bleibt und der am häufigsten gehört wird, ist dann, daß, wenn man die Nordschleswiger nicht mit Macht lehrt, daß sie deutsch sind, verharren sie in dem Glauben, daß sie auch staatsrechtlich dänisch sind ; sie wollen zu Dänemark zurück, und nur dadurch, daß man sie denationaliſiert, zerstört man ihre Hoffnung auf und ihre Bestrebungen für diese Rückkehr. Ja, hier haben wir sicher "des Pudels Kern".

Die Bevölkerung Schleswig-Holsteins wünschte in alten Tagen zu allererst eins: sich selbst genug zu sein. Gutsbesizer, Beamte und einige städtische Großbürger wollten eine einheitliche Leitung der beiden Herzogtümer; wirkte dieselbe in deutschem Geiste, hatten sie nichts dagegen, unter dänischem Zepter zu bleiben, im Gegenteil. Die übrige Bevölkerung war, insofern sie politisch wach war, in eine deutsch- und eine dänischgesonnene geteilt, aber zum ersten und legten war sie partikularistisch, und war man nicht schleswig-holsteinisch, so war man jedenfalls schleswigsch oder holsteinisch, eine Teilung Schleswigs lag außerhalb des Gedankenganges, geschweige denn der Wünsche der Bevölkerung. Das muß man u. a. vor Augen haben, wenn man an das Ergebnis der Londoner Konferenz im Jahre 1864 denkt. Bekanntlich gab es hier verschiedene Vorschläge zur Lösung des Konfliktes durch eine Vereinigung Nordschleswigs mit Dänemark und eine Vereinigung Südschleswigs mit Holstein, das dann Deutschland ein verleibt werden sollte; Vorschläge in dieser Richtung lagen auch von preußischer Seite vor. Wenn Dänemark damals hierauf nicht einging, kann der dadurch erwiesene Unverstand vielleicht einige Entschuldigung in verschiedenen Verhältnissen finden, mit deren Erörterung wir uns hier nicht beschäftigen wollen, von denen aber nur das eine er wähnt werden soll, daß damals die Nordschleswiger selber eine Teilung des Herzogtums Schleswig als ein Ueberſchneiden ihres Lebensnervs ansahen. Wäre die dänische Regierung freiwillig hierauf ein gegangen, so hätte sie eine nordschleswigsche Bevölkerung erhalten, die mit äußerst gemischten Gefühlen dem Geschehenen gegenüber gestanden hätte. Dann kam der Friede, und das Herzogtum wurde preußisch. Es wurde nicht selbständig (mit oder ohne Holstein), es wurde preußisch, was ja auch für die deutschen Schleswiger eine so große Enttäuschung war, daß Bismarck noch im norddeutschen Reichstag unter der Heiterkeit der Versammlung von den südschleswigschen Abgeordneten sagen konnte, daß sie ziemlich schwierig von den dänischen zu unterscheiden seien. Die nordschleswigsche Bevölkerung war, wie gesagt, vor allem von der Vorausſeßung ausgegangen, das Schleswig ein Ganzes verbleiben solle, aber, wohl gemerkt, weil sie als selbstverständlich vorausseßte, daß es dann unter Dänemark bleiben würde; der Wiener Frieden führte Enttäuschung und Trauer herbei vielleicht doch mit einer gewissen Schadenfreude vermischt, daß die deutschen Schleswiger, anstatt die Selbständigkeit zu erreichen, für die sie gekämpft hatten, jezt Preußen wurden, was sie ganz sicher nicht gewünscht hatten, aber es war ja nichts zu tun, die Londoner Konferenz war gesprengt, Schleswig war ungeteilt geblieben, aber ganz und gar auf die deutsche Seite hinüber gegangen. Daß die Gemüter in den ersten Jahren nicht zur Ruhe kamen, war selbstverständlich; die Herzogtümer waren ja 1864-66 von einem Ende bis zum anderen und in allen Beziehungen ein Land der Unruhe, dänisch augustenburgisch-preußisch-österreichisch, auch kann man sich nicht darüber wundern, daß bei dem provisorischen Charakter des Ganzen, im dänischgesonnenen Teile der Bevölkerung Hoffnungen vorhanden waren, an Dänemark zurückzukommen, nun war die Teilung Schleswigs diesen Leuten selbstverständlich das kleinere Uebel, da sie nunmehr die Gewißheit hatten, daß sie ohne diese Preußen waren und blieben. Was die Zeit diesen Hoffnungen gegenüber angerichtet haben würde, wenn im Jahre 1866 alles definitiv zur Ruhe gekommen wäre, läßt sich nicht gut sagen; nun aber kam der Artikel 5 des Prager Friedens, der die Unruhe wach erhielt.

Bekanntlich war es Napoleon III., der den Artikel 5 in den Prager Frieden hineinbrachte. Er hatte verschiedene Gründe, Dänemark zu einiger Revanche für 1864 zu verhelfen. Obwohl er selbst 1864 mehr preußen- als dänischfreundlich war, waren aus der Zeit Napoleons I. sympathische Reminiszenzen Dänemark gegenüber vor handen, und sowohl Regierung als Volk sahen in Frankreich mit einem gewissen Wohlwollen auf das kleine Volk, das niemals mit Frankreich Händel gehabt hatte und nun von den beiden deutschen. Großmächten überwältigt worden war. Dazu war eine Volksabstimmung, wie der Artikel 5 sie forderte, Wasser auf Napoleons Mühle, ein Glied in der Durchführung des Nationalitätsgedankens als leitendes internationales Prinzip. Schließlich und nicht zum wenigsten war die Einführung des Artikels 5 in den Friedenstraktat ein äußeres Zeichen, daß Frankreich sich geltend gemacht hatte und als "Makler" nicht ganz aus dem Spiel gesezt war. Indessen wurde ja der Friede zwischen Preußen und Oesterreich geschlossen, und der Name Frankreichs lag außerhalb des Friedenstraktats; einen Rechtsanspruch an die Durchführung desselben hatte es also nicht. Wenn daher Frankreich in den Jahren 1866–70 Preußen öfters an die Erfüllung des Artikels 5 erinnerte, war das, formell angesehen, ein Uebergriff und wurde zugleich materiell als ein solcher empfunden, weil niemand daran glaubte, daß die Angelegenheit an sich von besonderem Interesse für Napoleon sei. Man meinte, sie werde als Anlaß benut, sich in Preußens und Deutschlands Angelegenheiten hineinzumischen um gleichsam indirekt erkennen zu lassen, daß Frankreich in bezug auf die Ausführung des Prager Vertrages ein Aufsichtsrecht ausübe, damit also auch in bezug auf die für Frankreich weit wichtigere Vertragsbestimmung von der Mainlinie als Grenze zwischen Nord- und Süddeutschland. Frankreichs fortwährende Mahnungen, zu deren Belebung man von dänischer Seite das seinige beitrug, gerieten daher der Erfüllung des Artikels 5 zum Nachteil und nicht zum Nußen; es ließe sich denken, daß Bismarck es als opportun angesehen hätte, Napoleon in diesem Punkte eine Aufmerksamkeit zu erweisen, da aber das Entgegengesezte der Fall war, da er gerade daran festhalten und zeigen wollte, daß der Prager Frieden keine anderen Mächte als Preußen und Oesterreich etwas angehe, geschah es, daß die häufigen französischen Mahnungen das Gegenteil ihrer Absicht bewirkten.

Allein von dieser ganzen höheren Politik konnten nordschleswigsche Bauern wahrlich nichts wissen. Sie wußten, daß dem groß mächtigen französischen Kaiser zu Liebe der Artikel 5 in den Prager Frieden hineingesezt worden war, und daß er sich andauernd für die Erfüllung desselben interessierte -, wie konnten sie sich also denken, daß aus der Sache nichts werden, der Artikel ein toter Buchstabe bleiben sollte? Wie konnten sie als Deutsche und preußische Untertanen zur Ruhe kommen, wenn sie meinten, und doch wirklich nicht ohne Grund, daß eine Neuordnung jeden Augenblick zu erwarten sei? Sie konnten es um so weniger, als Bismarck sich öffentlich selber zu gunsten der Erfüllung des Artikels aussprach wenn auch in un bestimmten Formen, soweit das "Wie" der Erfüllung in Frage kam, und daß er auch privat und unter der Hand mit einer Abstimmung in Nordschleswig gerechnet hat, dafür ist ja nun ein unumstößlicher Beweis vorhanden (vergl. z . B. Keudell, Fürst und Fürstin v. Bismarck, S. 321). Schließlich wußte man in Nordschleswig, daß am Schlusse der sechziger Jahre zwischen Preußen und Dänemark über den Artikel 5 Verhandlungen eingeleitet waren; daß sie zu nichts führten, beruhte teilweise auf Dänemarks vielleicht etwas übertriebenen - Angst, die vorgeschlagene Uebereinkunft könnte neuen Anlaß zu einer künftigen Einmischung in seine Verhältnisse und damit zu neuen und gefährlichen Verwicklungen bergen, jedenfalls aber bewies ja doch dieses alles, daß der Artikel 5 lebte und daß Nordschleswig sich noch immer in einem Uebergangszustande befand. Selbst nach 1870 wandte man sich in bezug auf den Artikel 5 teils von außen an Preußen, teils gab Bismarck zu erkennen, daß er die Angelegenheit nicht als begraben ansehe; erst im Jahre 1878 scheint er definitiv aufgegeben zu haben, den Paragraphen zu verwirklichen. Hierzu mag wohl beigetragen haben, daß Kaiser Wilhelm I. sich mit seinem ganzen Gefühl entschieden gegen die Abtretung von nun einmal unter preußischem Zepter befindlichem Land sträubte, daß weiter der Teil der deutschen Bevölkerung, der in diesem Punkt interessiert war, ebenfalls dagegen war, weil Schleswig-Holstein der Tradition zufolge "ungedeelt" bleiben sollte - obwohl dieses Wort sich ja auf die Verbindung der Herzogtümer unter einander bezog, nicht aber auf das Abgeben einiger Aemter nordwärts -, daß ferner die praktische Durchführung der Teilung und der neuen Ordnung eine etwas schwierige war, u . a. mit Rückſicht darauf, daß sich auch einige Deutsche in Nordschleswig befanden, die unter dänisches Zepter kommen mußten, und schließlich kommt vielleicht in Betracht, daß die dänische Politik nicht so behutsam war wie wünschenswert. Das Ende vom Liede wurde jedenfalls, daß Preußen auf dem Berliner Kongreß, wo neben den öffentlichen Verhandlungen so vieles unter der Handgeordnet wurde, die Zusage Oesterreichs erhielt, von der Erfüllung des Artikels 5 Abstand zu nehmen, und diese Uebereinkunft wurde bei der Vermählung der dänischen Prinzessin Thyra mit dem Thronprätendenten Hannovers, dem Herzog von Cumberland, veröffentlicht.

Damit war der Artikel 5 aus dem europäischen Vertragssystem getilgt. Preußen hatte Dänemark gegenüber mit unbestrittenem juristischem Recht gehandelt. Wenn A. dem B. 100 000 Mark unter der Bedingung gibt, daß B. dem C. eine jährliche Rente von 1000 Mark gewähren solle, ist das eine Sache zwischen A. und B. untereinander, und wenn A. später von der Bedingung zurücktritt, behält B. die 100 000 Mark ohne darauf ruhende Lasten. Eine solche Handlung kommt um so leichter zustande, wenn es ursprünglich D. ist, der die Einführung der Bedingung - der Jahresrente erwirkt hat und D. nun verschwunden ist, während A. nicht das entfernteste Interesse an der Sache hat und obendrein Ersaß erhält, wenn er die für B. genierende Bedingung null und nichtig werden läßt. Daß aber C., der 12 Jahre mit der Existenz der Bedingung bekannt war und dieselbe als etwas wie eine Lebensbedingung betrachtete, sich aus diesem Anlaß freuen soll, kann man nicht wohl verlangen! Die Nordschleswiger bekamen zu wissen, daß sie nun definitiv und unwiderruflich Preußen und Mitglieder des deutschen Reiches seien, aber gibt es irgend einen Menschen, der sich darüber wundern kann, daß sie sich tief enttäuscht, ja moralisch beeinträchtigt fühlten?

Indessen war bei der Sache nichts zu machen, seit 1878 ist jezt ein Drittel eines Jahrhunderts verflossen, und der Artikel 5 ist längst tot und machtlos. Daß aber der Artikel 5 noch teilweise im Bewußtsein derjenigen lebt, die 1864-78 erlebt haben, daran sollte kein Deutscher Anstoß nehmen: Nordschleswig war ja doch in jeder nur denkbaren Beziehung vor 1864 dänisch; was aus dem Land werden sollte, wußte 1864-66 niemand, und daß es wieder dänisch werden sollte, war 1866-78 ein vollkommen legitimer Glaube. So viel Objektivität muß doch jeder beſißen, daß er zu verstehen fähig ist, wie schwierig es ist, Gefühle mit den Wurzeln auszureißen, die -- ursprünglich tiefliegend, wahrhaftig patriotisch jahraus und jahr ein am Leben erhalten werden, sie auszureißen und in ihr Gegenteil zu verwandeln. Die Geschichte dieser ganzen Sache sollte zur Milde Anlaß geben, nicht zur Strenge. Wir haben hier eine Grenzbevölkerung, von der noch ein Fünftel unter einem andern Regime geboren ist, und daß in einer solchen Bevölkerung Wünsche der Rückkehr sich regen, ist verständlich. Niemals aber ist nach 1878 irgend eine Handlung zur Realisierung dieser Wünsche unternommen worden, und nie werden nordschleswigsche Bauern solche Phantasten, daß sie nicht wissen, wie jede derartige Handlung zu keinem Nußen, wohl aber zu unheilbarem Schaden ausfallen müßte. Die jeßige Generation und ihre öffentlichen Vertreter haben das ja auch wiederholt und mit steigender Beſtimmtheit ausgesprochen. Die Nordschleswiger sind deutsche Untertanen, sind und waren deutsche Soldaten im Kriege und im Frieden, sind deutsche Bürger; was sie fordern ist, daß man ihrer Sprache und Kultur keine Gewalt antut, daß man ihnen gestattet, sie zu pflegen wie sie wollen, in derselben Weise, wie Millionen von Deutschen außerhalb des deutschen Reiches das auch tun —, warum soll dem Einen nicht Recht sein, was dem Andern billig ist ? 

Warum wünschen die Nordschleswiger denn, ihre Sprache und Kultur zu behalten? Ja, warum wünschen die Deutschen in Siebenbürgen dasselbe ? Warum hält man an Sitten, Gebräuchen und Sprache der Vorfahren fest? Weil das nun einmal Wiegengeschenke sind, auf die man nicht verzichten will. Wir meinen nicht um es zu wiederholen, daß man sich der Sprache usw. des Landes entziehen dürfe, in dem man nun einmal Staatsbürger ist, es muß Einem jedoch gestattet sein, daneben die eigene zu pflegen. Möglicherweise werden die Nordschleswiger mehr und mehr unter die geistige Uebermacht des großen Landes hineingezogen werden ; solches jedoch muß von selbst geschehen. Gewissermaßen können die das Gegenteil wünschenden sich über das geübte Unrecht freuen, weil es hemmt, was man zu fördern glaubt; das Unrecht aber ist nicht weniger groß, weil es zugleich unklug ist, und erregt darum nicht weniger Bitterkeit und Anstoß. Das ist die Erklärung für den Unfrieden und das Mißvergnügen in Nordschleswig, und dieser Zustand wird nicht schwinden, so lange ein Kurs gesteuert wird, für den sich kein vernünftiger Grund finden läßt, der die Geschichte des Landes und der Bevölkerung nicht berücksichtigt, der reizt, anstatt zu mildern. Und dieser Unfriede und dieses Mißvergnügen hinterlassen ihre Spuren auch nördlich von der Königsau.

Wie man auch über Nordschleswig denkt, so ist es klar, daß es der dänischen Regierung an jedem Recht fehlt, sich in nordschleswigsche Angelegenheiten zu miſchen ; sie muß alles diesbezügliche abweisen, und es kann ihr auch sicher nicht vorgeworfen werden, daß sie sich in dieser Beziehung in irgend einem Punkte unkorrekt benommen habe. Im Gegenteil, den Einfluß, den sie besigt, benut sie in so weiter Ausdehnung wie möglich, um auch Bevölkerung und Presse darauf aufmerksam zu machen, daß staatsrechtlich Nordschleswig ein deutsches, nicht ein dänisches Land iſt und der Artikel 5 der Vergangenheit angehört, daß ferner eine Kritik der Ereignisse in einem fremden Lande, im besonderen, wenn es das Nachbarland des Kritikers ist, in ziemlichen Grenzen gehalten werden muß, und daß endlich alle dänisch- chauvinistischen Rodomontaden nicht nur den Nordschleswigern, sondern auch den vitalsten Interessen Dänemarks Schaden zufügen. Eine Regierung kann ja aber in unserer Zeit die freie Rede und freie Presse nicht unterdrücken, und hier spürt man, troß allem, eine starke Empfindlichkeit der Regiererei in Nordschleswig gegenüber. Nur Toren und Leute ohne Einfluß denken in Dänemark an ein Wiedererwachen des Artikels 5 oder dergleichen; sehr verbreitet aber ist der Unwille über die Verfolgung der dänischen Sprache und Kultur in Nordschleswig und über die geistige Grenzsperre, die man an der Königsau durchzuführen sucht. Wenn die Deutschen sich auf ihre eigenen Gefühle den Sprachkämpfen in der österreichisch-ungarischen Monarchie gegenüber beſinnen wollen, werden sie auch die Gefühle der Dänen verstehen, und dabei müssen diese weit stärker sein als die entsprechenden in Deutschland . Das kleine Land, das zahlen mäßig kleine Volk fühlt sich stets leichter verlegt als das große; der Schwache meint, daß alles, was gegen sein Liebstes an Unrecht verübt wird, stattfindet, weil er schwach ist und sonst nicht begangen werden würde. Das vermehrt die Bitterkeit. In Dänemark hat man jezt 1864 als eine geschichtliche, definitive Tatsache einregistriert; aber muß daraus notwendig folgen, daß eine annektierte dänische Bevölkerung auf Schritt und Tritt darunter leiden soll, daß sie Dänisch spricht, daß sie ein dänisches Schauspiel hören, einen dänischen Dienstboten halten, eine dänische Volkshochschule besuchen will und dergleichen? Man findet, daß durch die gegen diese Dinge gerichteten Verbote dem Land Dänemark selber eine Geringschäßung erwiesen wird, die verleßend wirkt. Man weiß ja, daß dieses Auftreten nicht davon herrühren kann, daß von Dänemark aus irgend eine Gefahr drohte, also erklärt man es, wie gesagt, aus dem Umstand, daß man Dänemark gegenüber keine Rücksichten zu nehmen braucht.

Das ist ein außerordentlich großer Uebelstand, denn dadurch wird den ernsten Bestrebungen entgegengearbeitet, die von großen und bedeutenden Kreisen im dänischen Volke entfaltet werden, um in ein ungestört gutes Verhältnis zu Deutschland zu gelangen. Will man einwenden, daß auch aus diesen Kreisen die Nordschleswiger mit dänischen Büchern und Zeitungen unterstüßt, zu Besuchen von Schulen in Dänemark verholfen werden usw., so ist das wahr, damit aber geschieht nichts anderes, als was in der ganzen Welt vom Mutterland aus an Gruppen derselben Nationalität außerhalb der Grenzen getan wird . Und ebenso wie es die reinste Unwahrheit ist, daß man von dänischer Seite politische Agitationskassen oder anderes dergleichen in Nordschleswig unterstüßt, ebenso darf mit vollkommener Sicherheit gesagt werden, daß jeder Gedanke der staatsrechtlichen Verknüpfung aus dem Spiel bleibt, und daß man solchen Gedanken, wenn sie vorhanden wären, nicht gestatten würde Formen anzunehmen. Die von dem deutschen Verein in Nordschleswig und von seinen all deutschen Bundesverwandten ausgehende Agitation enthält viele direkte Ausfälle auch gegen Dänemark selbst und gegen die dänische Regierung, und eben darum weiß jeder patriotische Däne, daß selbst der Schein eines Anlasses vermieden werden muß, und mehr und mehr wird jetzt auf dergleichen in Dänemark geachtet, vor allem, wenn es sich um jemand handelt, der nur irgendwie eine Amtsstellung oder einen amtlichen Auftrag hat. Daß man aber in Dänemark mit seinen 2,3 Millionen Einwohnern daran interessiert ist, daß es einer Bevölkerung, die 4 bis 5 Prozent von der Volkszahl des eigenen Landes ausmacht, auch jetzt gestattet wird, Dänisch zu sprechen und zu schreiben usw., daß hat seinen guten Grund doch schon darin, daß ein so kleines Sprach- und Kulturgebiet wie Dänemark nichts an Zahl zu verlieren hat, und das sollte doch eine Nation wie die deutsche, deren Sprache wohl die von hundert Millionen ist, mit Ruhe ertragen können.

Jedoch gehört in einer Situation wie der jezt vorliegenden nur wenig dazu, um Mißverständnisse hervorzurufen, die wiederum noch mehr Wirrwarr mit sich führen. Was ist z. B. nicht daraus gemacht worden, daß Herr I. C. Christensen (der ehemalige Minister präsident) einmal im Folketing (Volkstag) aussprach, wir hätten kein Recht an Nordschleswig, sondern seien in bezug auf dessen staatsrechtliche Zukunft auf Deutschlands Wohlwollen angewieſen usw. Es wurde das dahin ausgelegt, daß selbst ein Vertreter der Regierung im dänischen Reichstag auf die Trennung Nordschleswigs von Deutschland anspiele! Welche Ironie des Schicksals! Gerade I. C. Christensen und seine Partei (d . h. im weiteren Sinne die ganze dänische Linke, bevor sie in Fraktionen zerfiel) sind schrosse Gegner von jedem Chauvinismus gewesen und haben unverbrüchlich an einem guten und loyalen Verhältnis zu Deutschland festgehalten. Vielleicht war sein Sag unbeholfen formuliert, einem jeden Dänen aber war der Sinn klar genug: hoffet, was Ihr wollt, in bezug darauf, was einmal geschehen wird, wenn Lamm und Löwe zusammen grasen, Nordschleswig aber ist jetzt nach Recht und Gesez deutscher Besih, und an dieser Tatsache weder kann noch darf gerührt werden .

Mehr aber als auf eine solche Einzeläußerung hat man dar auf hingewiesen, daß sogar die Konvention über die Optantenkinder vom 21. Januar 1907, die doch unbedingt ein zuvorkommender Schritt von deutscher Seite war, in Dänemark kühl, ja von gewisser Seite fast mit Unwillen aufgenommen wurde. Bei allen Dänen hatte die "Köllerpolitik" mit ihrem harten, unbarmherzigen und verschmitt schikanösen Verfahren den größten Unwillen erregt. Als dann der Systemwechsel" (der Beginn der liberalen Aera in Dänemark) mit dem Jahrhundertwechsel erfolgte, und die „ Köllerpolitik" nach und nach abflaute, hoffte man in weiten Kreisen Dänemarks, daß jezt die wirkliche Versöhnungsperiode sich einstellen werden.

Die Erwartung einer Annäherung wurde auch nicht getäuscht. Durch Unklarheit in den Uebereinkünften zwischen Dänemark und Preußen, durch harte und hartherzige administrative Auslegungen in den Herzogtümern und schließlich durch die verschiedenartige Geseßgebung der beiden Länder, waren Tausende von Nordschleswigern in ihrer Heimatrechtlos geworden, konnten zu jeder beliebigen Zeit aus ihr ausgewiesen werden. Die Sache nahm einen stets größeren und unheimlicheren Umfang an, und da die Frage sich um die Auffassung internationaler Traktate und Landesgeseze drehte, wurde sie nicht nur eine innere nordschleswigsche, sondern auch eine dänisch-deutsche Frage. Um so mehr bedurfte sie der Lösung. Es ist kein Geheimnis mehr, daß der deutsche Kaiser in Person zu der glücklichen, versöhnlichen Lösung beitrug, und man ist ihm an beiden Seiten der Königsau dafür aufrichtig zu Dank verpflichtet. Allein, c'est le ton qui fait la musique der neue Traktat wurde in einer Weise in Dänemark präsentiert, die nahe daran war, einen Mißton zu erregen, wo man Harmonie herrufen wollte. Erstens war das dänische Publikum nur schlecht darüber unterrichtet, was die "Optantenfrage" eigentlich bedeutete, was insofern verzeihlich ist, als sie eine ebenso verwickelte Frage ist wie alles andere, das im Laufe der Zeiten mit der schleswig-Holsteinischen Frage verknüpft gewesen ist, und man verstandnamentlich nicht, eine wie große praktische Bedeutung die gute Lösung der Frage für die Sicherheit von Tausenden von Nordschleswigern hatte, die nun ruhig in ihrem Haus und auf ihrem Hof sitzen konnten. Ferner war man nicht klar über die von "alldeutscher" Seite gegen eine versöhnliche Lösung betriebene Agitation und würdigte daher auch nicht hinreichend, daß die oberste Leitung in Deutschland sich nicht von dem hatte abschrecken lassen, was sie für recht und zweckentsprechend hielt. Schließlich aber wurde die Konvention mit der herzlich überflüssigen Hinzufügung veröffentlicht, Dänemark erkenne den Wiener Frieden und nur diesen als das Grenzverhältnis zwischen Dänemark und Deutschland bestimmend an, d . h. der Artikel 5 des Prager Friedens wurde offiziell und feierlich, ebenfalls von dänischer Seite, als nicht existierend erklärt. Das war jedoch schon offiziell, nur nicht öffentlich, im Jahre 1879 von der dänischen Regierung der deutschen gegenüber geschehen, warum es also jezt wiederholen? Eine Leiche kann man ja doch nicht totschlagen, und in vielen dänischen Kreisen wußte man die nun veröffentlichte Optantenkonvention nicht anders aufzufassen, als daß Dänemark, weil es den "Optantenkindern" - viele wußten kaum, was darunter zu verstehen sei gestattet wurde, in Nordschleswig wohnen zu bleiben, definitiv auf die Erfüllung des Artikels 5 verzichtet habe. Und war das des Jubelns wert, hieß das nicht "Gold zu teuer bezahlen"?

Bismarck wandte zur Erreichung seiner Zwecke vielerlei Mittel und Kombinationen an, was aber ausreichend war, genügte ihm auch, darüber hinauszugehen, war zu viel, war schädlich. Bei allem schuldigen Respekt vor der deutschen Diplomatie handelte sie kaum nach dem Rezept Bismarcks, als sie 30 Jahre nach der Aufhebung des Artikels 5 als Bedingung für eine freundschaftliche Handlung Dänemark gegenüber feststellen ließ, diese Aufhebung sei nun aufs neue seitens der dänischen Regierung gutgeheißen. Wie gesagt, man mißverstand in Dänemark die Sachlage, einige aus bösem Willen, die meisten in gutem Glauben: die Speise war gut genug, die Servierung nur ein wenig unbeholfen. Hinc illae lacrymae! Jezt ist man in Dänemark auch darüber hinausgekommen und sieht ein, wie groß das Gute war, das erreicht wurde, ohne daß es an sich das Geringste mit dem bereits 1878 erledigten Artikel 5 zu schaffen hatte, und es steht zu hoffen, daß die Enttäuschung, die das dänische Mißverständnis in gewissen deutschen Kreisen hervorgerufen haben soll, sich jezt ebenfalls gelegt haben und keine weiteren Folgen mit sich führen möge.

Bereits am Anfang dieses Aussages ist ausgesprochen worden, daß Deutschland ja in vielen Stücken zeigt und gezeigt hat, daß es ein gutes Verhältnis zu Dänemark wünscht, und in Dänemark ist, wie gesagt, jeder verständige Mann damit im Reinen, daß wir mit unserem großen und mächtigen Nachbarn in Frieden und gutem Verständnis leben sollen und müssen. Weshalb soll denn ein solcher gegenseitiger Wunsch nach guter Nachbarschaft von Nadelstichen gestört, von neuen Schikanerien und Zwangsmaßregeln gegen die kleine dänischredende preußische Grenzbevölkerung geschädigt werden, Maßregeln, die, wie man wissen muß, naturnotwendig auch uns Dänen zu Herzen gehen müssen? An sich kann ja zwiſchen Nachbarn leicht Konfliktstoff entstehen, weshalb denn solchen geflissentlich herbeiführen, wo er überflüssig ist ? Die deutschen Agrarier haben sich hohe Steuersäße, verborgene Ausfuhrprämien, scharfe Veterinärmaßregeln verschafft; glaubt man, daß das den dänischen Agrariern zur Freude gereicht? Wir sind im wesentlichen ein Freihandelsland, Deutschland huldigt dem Protektionismus, wenn nun unseren Agrariern an der deutschen Grenze Schwierigkeiten begegnen, während unsere eigene offen ist, werden sie dann nicht sofort sagen, solches sei deutsch? Deutsche Geschäftsreisende erscheinen scharenweise in unserer Hauptstadt und in unseren Provinzstädten, um deutsche Ueberproduktion los zu werden, oft unter dem Preis, aber dänischen Geschäftsreisenden ist es verboten, in Nordschleswig zu reisen ( ! ); glaubt man, daß unsere Gewerbetreibende und Kaufleute meinen, dergleichen sei gleiches Spiel, und daß solches nicht immer wieder Grund zu Beschwerden gibt? Wer das Pferd will, muß die Halfter wollen, sagt ein dänisches Sprichwort ; will man daher in Deutschland, daß wir miteinander auf gutem Fuße stehen sollen gänzlich, völlig -, muß man doch auch einmal damit aufhören, zum Entgegengeseßten Anlaß zu geben. Man lasse die Nordschleswiger in Ruhe! Man sagt bei uns: Wer dem Kinde die Hand reicht, greift der Mutter ans Herz. Die dänischen Nordschleswiger sind deutsche Staatsbürger und Untertanen, das wissen sie, das sollen sie wissen, das weiß man auch in Dänemark und soll es auch wissen. Sie sind aber aus dänischer Wurzel entsprungen. Ist das ein Verbrechen, und weshalb soll es dem einen oder dem anderen der Beteiligten zur Last gelegt werden, daß diese uralte Verwandtschaft geistig erhalten wird? Wäre es nicht sogar denkbar, das Deutschland selbst geistigen Vorteil davon hätte? Wo immer die staatsrechtliche Scheidelinie zwischen zwei Staaten gezogen wird, werden ja doch Grenzdistrikte und eine Grenzbevölkerung vorhanden sein; diese müßten in unserer Zeit ein Bindeglied, eine Kulturbrücke sein, nicht aber das Gegenteil. Deutsche Kultur kommt auf vielen Wegen nach Dänemark und hat das ſtets getan; als die Herzogtümer zu Dänemark gehörten, waren sie einer der Hauptwege von Deutsch zu Dänisch; jezt gehören sie zu Deutschland, weshalb darf nun Nordschleswig nicht einer der Wege von Dänisch zu Deutsch sein, wenn es überhaupt wahr ist, daß man in Deutschland die dänische und nordische Kultur achtet und nicht geringschäßt.

An "Hochherzigkeit“ in der Politik zu appellieren, ist ja nicht an seinem Plaze; wir appellieren nur an die Vernunft. Und wir fragen daher, wozu soll das harte Landratsregiment in Nordschleswig nüßen? Was will man erreichen, was fürchtet man, weshalb will man den Frieden nicht gewähren, durch den man schließlich weit besser sein Ziel erreichen wird als durch Unfrieden? Weshalb will man auch die Gefühle der Bevölkerung nördlich von der Königsau kränken, der Bevölkerung in eben dem Dänemark, das in so hohem Grade an Deutschland angewiesen ist und nur wünscht, daß man seine Bemühungen um ein gutes Verhältnis nicht alle Augenblicke durchkreuzt? Welchen vernünftigen Zweck verfolgt Deutschland mit seiner nordschleswigschen Politik? Nicht im Namen der "Sentimentalität", sondern im Namen aller gesunden Vernunft fragen wir: "Wozu?“

Kopenhagen, März 1911 .

(Preussische Jahrbücher. 21. bind, april til juni 1911.)

(En dansk oversættelse af artiklen findes på denne blog).

Ingen kommentarer:

Send en kommentar